Orte der Mehrdeutigkeit

Mehrdeutigkeit in und jenseits der Sprache. Die natürlichen Sprachen sind außerordentlich anpassungsfähig, sie sind in allen möglichen Kontexten einsetzbar, in denen Menschen aufeinandertreffen und miteinander kommunizieren. Dabei kann man Phänomene beobachten, von denen auf den ersten Blick nicht ganz klar ist, ob man sagen soll, dass sie eng verwandt oder völlig voneinander verschieden sind: Mehrdeutigkeit, Vagheit und Unbestimmtheit. Das Ziel ist es, Mehrdeutigkeit zu definieren und von anderen Phänomenen abzugrenzen. Die sprachliche Mehrdeutigkeit ist dabei zunächst ein naheliegender Ausgangspunkt, denn auch wenn Mehrdeutigkeit vielfach als bloß sprachliches Phänomen gesehen wird und es tatsächlich viele Arten der Mehrdeutigkeit sprachlicher Natur gibt, so wird man, wenn man sich ein wenig umsieht, viel mehr Dinge finden, die man in einem oder anderem Sinn mehrdeutig nennen kann.

"Mehrdeutigkeit ist etwas anderes als Vagheit"  oder auch Unbestimmtheit; es handelt sich um ähnliche aber doch grundverschiedene Phänomene. Quines Auffassung aus Wort und Gegenstand ist die Position, die normalerweise in der philosophischen Diskussion eingenommen wird, deren Begründung aber nicht so leichtfällt, wie es vielleicht scheinen mag. Dem Begriff der Mehrdeutigkeit stehen in der Literatur etwa auch Allgemeinheit, Nicht-Determination oder unbestimmte Referenz gegenüber.  ln manchen Arbeiten zu Mehrdeutigkeit und Vagheit findet man dann im Gegensatz dazu die Auffassung, dass es ein Kontinuum gibt,  das bei Vagheit beginnt und bis hin zu Homonymie und Polysemie – zwei Arten der Mehrdeutigkeit – reicht.

Der Grund für die Annahme eines Mehrdeutigkeits-Vagheits-Kontinuums scheint mir die Tatsache zu sein, dass es bisher kein adäquat funktionierendes Mehrdeutigkeitskriterium gibt. Um also den Begriff der Mehrdeutigkeit definieren zu können, muss er von ähnlichen Phänomenen abgegrenzt werden. Dis geschieht mithilfe eines geeigneten Mehrdeutigkeitskriteriums; konkret möchte ich für ein pragmatisches Mehrdeutigkeitskriterium der vernünftigen Behauptbarkeit argumentieren.

Paradigmatische Beispiele für Mehrdeutigkeit, Vagheit und Unbestimmtheit lassen sich leicht finden, also Beispiele, die man intuitiv klar als mehrdeutig (1), vage (2) oder unbestimmt (3) klassifizieren würde:

  1. Wo ist das schwarze Pferd [Equus ferus/Springer im Schachspiel]?
  2. Telly Savalas ist kahl [keine/-100 Haare am Kopf].
  3. Jemand [Anna/Bruno/Cecilia] hat heute Geburtstag.

Bei den Sätzen (1) bis (3) haben wir keine Schwierigkeit zu entscheiden, ob es sich um einen Fall von Mehrdeutigkeit, Vagheit oder Unbestimmtheit handelt, es sind paradigmatische Fälle. Beispiel (1) ist mehrdeutig, der Begriff "Pferd" kommt im Ausdruck "das schwarze Pferd" in jeweils einer seiner homonymen Bedeutungen "Equus ferus" und "Springer im Schachspiel" vor; ersteres bezeichnet Exemplare einer natürlichen Gattung der Huftiere, letzteres eine der Spielfiguren eines beliebten Brettspiels. Der Begriff "kahl" in Satz (2) ist eines der pragmatischen Beispiele für Vagheit; es ist nicht festgelegt, welche Anzahl an Haaren jemand haben kann, um noch als kahl zu gelten. Der Term "jemand" in Satz (3) ist eine natürlichsprachliche Variable, ein Art Platzhalter mit unbestimmter Referenz.

Benötigen wir überhaupt ein Mehrdeutigkeits-Kriterium, wenn wir intuitiv zwischen Mehrdeutigkeit, Vagheit und Unbestimmtheit entscheiden können? Ja, denn sobald man diese einfachen Fälle hinter sich lässt, gibt es oft keine eindeutigen Intuitionen hinsichtlich der Frage mehr, ob ein Ausdruck bzw. ein Satz mehrdeutig ist oder nicht. Es treten folgende zwei Schwierigkeiten auf:

  1. Es gibt konkrete nicht-paradigmatische Fälle (Ausdrücke und Sätze), bei denen intuitiv nicht klar ist, ob es sich um Mehrdeutigkeit, Vagheit oder Unbestimmtheit handelt.
  2. Es gibt bisher kein Kriterium, mit dessen Hilfe man paradigmatische Fälle von Mehrdeutigkeit, Vagheit und Unbestimmtheit voneinander unterscheiden kann, also Fälle, die man intuitiv klar als mehrdeutig, vage oder unbestimmt klassifizieren würde. 

Ich möchte (A) das Problem der Klassifikation nicht-paradigmatischer Fälle und (B) das Problem des fehlenden Kriteriums nennen. (A) und (B) sind Probleme verschiedener Natur und Schwere, denn während (A) selbst eine Spielart des Problems der Vagheit zu sein scheint, handelt es sich bei (B) um das grundsätzlichere Problem, das Phänomen der Mehrdeutigkeit zu definieren und mit Hilfe eines Kriteriums von ähnlichen Phänomenen zu unterscheiden.

Die meisten Begriffe der Alltagssprache sind nicht exakt, es gibt Grenzfälle - nichtparadigmatische Fälle - von denen man nicht unmittelbar sagen kann, ob sie unter einen Begriff fallen oder nicht: Man könnte sich eine Schüssel vorstellen, die immer flacher wird, bis sie schließlich ein Teller ist. Wo ist die Grenze zwischen Schüssel und Teller? Oder man denke an einen Pinguin, der kein besonders paradigmatisches Exemplar eines Vogels ist. Dies ist meist wenig problematisch, doch solange es weder eine exakte Definition des jeweiligen Begriffs noch ein Kriterium zu Unterscheidung gibt, ist es nicht besonderes überraschend, dass man Probleme bei der Einordnung solcher nicht-paradigmatischer Grenzfalle hat (nicht beim Pinguin, da es in der Biologie eine Definition für "Vogel" gibt). Auch die alltagssprachliche (und teilweise sogar die philosophische) Verwendung von Mehrdeutigkeit, Vagheit und Unbestimmtheit scheint durch unscharfe Ränder bestimmt zu sein, zumal die Begriffe einander ähnlich sind, weshalb die Kategorisierung konkreter Fälle Schwierigkeiten bereiten kann. Aber: Wenn wir eine Antwort auf (B) haben, das heißt wenn wir eine Definition und ein Unterscheidungskriterium haben, so können wir auch eine Antwort auf (A) geben, wir können also in nicht-paradigmatischen Fällen entscheiden, ob der betreffende Terminus bzw. Satz mehrdeutig ist. Die hier folgenden Beispiele sollen das Problem der Klassifikation nicht- paradigmatischer Fälle vorerst einmal intuitiv plausibel machen.

  1. Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt ist ein leichtes [es wiegt nur 100 Gramm/es ist nicht schwer zu verstehen] Buch.      
  2. Der Lindwurm ist grün [#00AAOO/lindgrün/giftgrün/mint/... ]. 
  3. Ludwig ist ein Hund [biologische Art Canis lupus familiaris/männliches Exemplar dieser Art]. 
  4. Bertha ist die Radfahrerin [professionelle Radrennfahrerin/Freizeitradfahrerin], die mich gestern beinahe überfahren hätte. 
  5. Der gegenwärtige König von Frankreich ist nicht kahl [existiert mit Haaren/existiert nicht]. 
  6. Darf ich vorstellen, das ist meine Tante [Schwester des Vaters/Schwester der Mutter] Dorothea. 
  7. Emil hat Emilie die Suppe versalzen [Salz in die Suppe getan/ihre Pläne durchkreuzt]. 
  8. Die Krater des Mondes sind nicht sichtbar [mit bloßem Auge/mit einem Teleskop]. 
  9. Sokrates ist nun größer als der durchschnittliche Athener [er ist gewachsen/der Durchschnitt ist gesunken]. 
  10. Max wurde entlassen [wurde irgendwann schon einmal oder auch mehrmals entlassen/wurde vor kurzem entlassen und arbeitet derzeit nicht]. 
  11. Bill liebt seine Frau und Heinrich ebenso [liebt auch Bills Frau/liebt seine eigene Frau auch], 
  12. Der Mörder von Smith [diese Person, von der ich glaube, dass sie der Mörder von Smith ist/wer auch immer der Mörder von Smith ist] ist geisteskrank. 
  13. Nemo der Clownfisch ist gesund [die Gesundheit fördernd/die Gesundheit habend]. 

Sind die Beispiele (4) bis (16) nun mehrdeutig, vage oder unbestimmt? Oder sind die meisten dieser Sätze eindeutig und nur der jeweilige Kontext ermöglicht mehrere Interpretationen? An diesem Punkt nehme ich die Tatsache, dass es Diskussionen über den Status dieser Sätze gibt, als Beleg dafür, dass ihr Status zumindest klärungsbedürftig ist.

Wie man an den Sätzen (4) bis (16) sieht, gibt es verschiedene Arten der Mehrdeutigkeit, von denen einige auch nicht-sprachlich sein werden. Ich vermute, dass auch dies ein weiterer Grund für die Schwierigkeiten ist, ein universelles Mehrdeutigkeitskriterium zu formulieren. Jeder Versuch ein Kriterium zu formulieren, der nicht berücksichtigt, dass es sich eben um verschiedene Arten der Mehrdeutigkeit handelt, muss scheitern, denn einem Mehrdeutigkeits-Kriterium, das auf nur eine bestimmte Art der Mehrdeutigkeit hin ausgerichtet ist, müssen andere Arten der Mehrdeutigkeit entgleiten. Die verschiedenen Arten der

Ich bin der Meinung, dass man die verschiedenen Arten der Mehrdeutigkeit am leichtesten unterscheiden kann, wenn man betrachtet, wie sie entstehen und an welcher Stelle im Kommunikationsprozess sie entstehen. Nicht alle Arten der Mehrdeutigkeit entstehen an derselben Stelle im Kommunikationsprozess. Dies ist meine vielleicht überraschende und anfangs womöglich sogar kryptisch scheinende Antwort: Mehrdeutigkeit entsteht nicht immer am selben Ort.

Sprache dient der Kommunikation, weshalb es mir wenig sinnvoll erscheint, Bedeutungen von Ausdrücken und Sätzen außerhalb einer (zumindest hypothetischen) Kommunikationssituation zu betrachten.  Ich glaube, dass es unmöglich ist, die Frage nach der Mehrdeutigkeit zu beantworten ist, ohne die kommunikative Funktion der Sprache zu berücksichtigen. Dies kann geschehen, indem man versucht den Weg zu rekonstruieren, den die Information vom Sprecher zum Hörer nimmt. Wenn man schließlich weiß, wie und wo Mehrdeutigkeit entsteht, so kann man (1.) man verschiedene Arten der Mehrdeutigkeit unterscheiden, man kann (2.) ein Mehrdeutigkeitskriterium formulieren und man kann (3.) eine Definition von Mehrdeutigkeit geben.

Der methodische Ansatz für eine detaillierte Antwort auf die Frage nach der Mehrdeutigkeit besteht darin, das Phänomen der Mehrdeutigkeit in einem größeren Rahmen zu betrachten; das Ziel ist einerseits ein Mehrdeutigkeits-Kriterium und andererseits eine einheitliche Theorie der Mehrdeutigkeit – eine eindeutige Bestimmung des Mehrdeutigen.

 

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Mehrdeutigkeit in- und außerhalb der Sprache. Auf der Suche nach einer Neuen Universellen Theorie der Ambiguität (NUTA) ...

 

Hasen-Enten-Kopf

 

„MEHRDEUTIG, adj. mehr als éine deutung zulassend: ein mehrdeutiger ausspruch. vergl. eindeutig. “ 

 

– Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 12, Sp. 1889 bis 1894.

 

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