Über die Unmöglichkeit von Zeitreisen (09/2011)

XXII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie „Welt der Gründe“, 11. bis 15. September 2011 | München, Deutschland

Zwischen Philosophie und Science-Fiction angesiedelt, haben Zeitreisen Eingang ins Alltagswissen gefunden und die Fantasie beflügelt. Vom philosophischen Standpunkt aus kann man sich im Rahmen einer zeitphilosophischen Betrachtung ernsthaft die Frage nach der Möglichkeit von Zeitreisen stellen. Der Beitrag soll zeigen, dass Zeitreisen unmöglich sind. Das Ergebnis ist nur insofern relativ, als es einer zusätzlichen Annahme bedarf, des Präsentismus. Dieser ist nicht unumstritten, doch begründbar.

XXII. Deutscher Kongress für Philosophie


Durch die Philosophie der Zeit geistert fortwährend eines jener Paradoxa, die dazu geeignet scheinen, Fachleute und Laien gleichermaßen anzusprechen. Das sogenannte Großvaterparadoxon soll nahe legen, dass Zeitreisen in die Vergangenheit unmöglich sind. Kurz gesagt: Ich kann nicht in die Vergangenheit reisen, da ich "dort" Dinge tun kann, deren Auswirkungen auf die Zukunft nicht absehbar sind, wohlgemerkt, im besten Fall. Im für mich ungünstigsten Fall könnte ich sogar eine Zukunft, wie ich sie kenne, unmöglich machen. Mit "Zukunft" ist dabei immer jene Zeit gemeint, die Ausgangspunkt meiner Reise in die Vergangenheit ist, denn bei einer Reise in die Vergangenheit wird das, was bisher meine Gegenwart war zu meiner Zukunft. Bewirke ich auf einer solchen hypothetischen Zeitreise das Dahinscheiden meines Großvaters, dann würde ich meine eigene Existenz unmöglich machen und könnte die angedachte Zeitreise nicht mehr unternehmen. Nüchternere Geister argumentieren, dass Zeitreisen implizieren, dass Effekte ihren Ursachen vorhergehen können. Da es aber logisch unmöglich ist, dass Effekte ihren Ursachen vorhergehen, sind Zeitreisen logisch unmöglich (Vgl. Dwyer 1978, S. 16). Ein genauerer Blick auf die zweite Prämisse macht deren Defekt offenbar. Es ist zumindest logisch möglich, dass Effekte ihren Ursachen vorhergehen, da es keine analytische Wahrheit zu sein scheint, dass eine Ursache zeitlich vor ihrem Effekt angesiedelt sein muss. Außerdem, so könnte man einwenden, sollten zumindest jene Zeitreisen möglich sein, die keine Widersprüche in das Raum-Zeit-Kontinuum flechten. Mit anderen Worten, ich kann zwar Zeitreisen unternehmen, kann aber auf diesen Reisen nichts tun, was eine Störung des Raum-Zeit-Kontinuums darstellen würde. Was auch immer ich auf meiner Zeitreise in die Vergangenheit unternehme, ich kann nichts tun, was die Integrität meines Großvaters verletzen würde. So gesehen scheint es also, dass das Großvaterparadoxon nicht dazu geeignet ist, die Unmöglichkeit von Zeitreisen zu beweisen.

Eine weitere Argumentation zielt darauf ab zu zeigen, dass Zeitreisen unmöglich sind, und zwar indem man darauf hinweist, dass man nicht zu einem Zeitpunkt reisen kann, der nicht existiert. Die räumliche Analogie ist, dass man nicht zu einem Ort reisen kann, der nicht existiert (Vgl. Keller, Nelson 2001, S. 335). Ich kann nicht zu Alice ins Wunderland reisen und genauso wenig kann ich in das Jahr 1910 reisen. Der Grund ist, dass beide nicht existieren: Das Wunderland ist ein fiktiver Ort, das Jahr 1910 ist eine vergangene Zeitstelle. Diesen Gedankengängen, die auch Nowhere-Argument genannt werden, liegt die implizite Annahme zugrunde, dass nur gegenwärtige Dinge existieren. Raum und Zeit sind nach dieser Auffassung grundsätzlich voneinander verschieden: Außer dem Ort, an dem ich mich gerade befinde, gibt es noch weitere Orte, aber außer dem Zeitpunkt, an dem ich mich gerade befinde, gibt es keine weiteren Zeitpunkte. Das ist eine Position, die als Präsentismus bekannt ist und vor allem in Konkurrenz zum Vierdimensionalismus steht, der Auffassung vieler Physiker und physikaffiner Philosophen. In der vierdimensionalen Raumzeit der Physik sind die drei räumlichen und die eine zeitliche Dimension austauschbare Achsen eines Kontinuums. Um das Nowhere-Argument zu beleuchten, kann die präsentistische Voraussetzung jedoch ohne Weiteres zugestanden werden. Ist das Nowhere-Argument ein gutes Argument? Seine Gegner bemühen sich zu beteuern, dass wir ständig zu Zeitpunkten "reisen", die nicht existieren. Die in fünf Minuten gegenwärtige Zeitstelle existiert jetzt noch nicht, sondern eben erst in fünf Minuten. Die im Augenblick gegenwärtige Zeitstelle hat vor fünf Minuten noch nicht existiert und doch sind wir mittlerweile dort angelangt. Die Frage an jemanden, der das Nowhere-Argument vorbringt, muss also lauten, warum eine dieser Zeitreisen möglich sein sollte, die andere aber nicht. Ohne eine zufriedenstellende Erklärung kann die Suche nach einem Argument gegen die Möglichkeit von Zeitreisen nicht für beendet erklärt werden.

Das Nowhere-Argument selbst ist kein gutes Argument gegen die Möglichkeit von Zeitreisen, es ist aber Ausgangspunkt eines sehr überzeugenden Arguments. Seine Schwäche liegt im Übrigen nicht dort, wo der erwähnte Einwand sie vermutet. Das Nowhere-Argument hört meiner Meinung nach gerade dort zu fragen auf, wo man damit beginnen sollte, weitere Fragen zu stellen. Damit sollte man dann in der Lage sein zu begründen, warum Zeitreisen nicht möglich sind. Der Präsentismus soll auch bei diesem Argument die Rolle einer Annahme im Hintergrund spielen.

Man stelle sich vor, ich wollte eine Zeitreise ins Jahr 1910 unternehmen. Der Grund, warum diese Reise undurchführbar ist, liegt weder an den zu erwartenden Problemen im erwartenden mit dem Raum-Zeit-Kontinuum noch daran, dass das Jahr 1910 derzeit nicht existiert. Der Grund ist ursprünglicher und den genannten Schwierigkeiten vorgelagert. Ich nehme einmal an, dass ich mich allein auf den Weg ins Jahr 1910 mache oder in einer kleinen Gruppe. Denn was mit Zeitreise keinesfalls gemeint sein kann, ist, dass das gesamte Universum vom Jahr 2010 ins Jahr 1910 reist. Von einer derartigen Zeitreise würde man nämlich auf der Erde nichts bemerken (Vgl. Shoemaker 1969). Wenn man über Zeitreisen diskutiert, und bisher habe ich diese Interpretation aus gutem Grund stillschweigend vorausgesetzt, dann kann nur gemeint sein, dass eine Person oder eine Gruppe von Personen in die Zukunft oder die Vergangenheit ihres Universums reist. Es ist nicht gemeint, dass sich das gesamte Universum von einem Zeitpunkt zum nächsten bewegt, in welche Richtung auch immer. Hat man diesen Unterschied klar ins Auge gefasst, kann man den oben gemachten Einwand gegen das Nowhere-Argument zurückweisen: Eine "echte" Zeitreise ist verschieden von der Tatsache, dass sich das gesamte Universum von einem Zeitpunkt zum nächsten bewegt. Eine Zeitreise ist geradezu definiert als Einschnitt in den natürlichen Fluss der Zeit, der ständig zu beobachten ist, der letztendlich das ist, was wir von der Zeit wahrnehmen. Und ich möchte nicht wissen, ob es möglich ist, dass die Zeit vergeht, sondern ich möchte wissen, ob es möglich ist, dass die Zeit für mich anders verläuft als für den Rest des Universums. Wenn man erörtert, ob Zeitreisen möglich sind, dann fragt man sich in der Regel, ob Zeitreisen für mich möglich sind. Es sei unbestritten, dass ich für mich selbst eine kongruente Geschichte erzählen kann, die den Schuss nahe legt, dass Zeitreisen logisch möglich sind. Die Frage sollte jedoch sein, ob Zeitreisen für das Universum möglich sind. In diesem Sinn ist das Großvaterparadoxon ein Schritt auf dem richtigen Weg, denn es wird gefragt, ob es durch Zeitreisen nicht zu Inkongruenzen im Raum-Zeit-Kontinuum des Universums kommen kann.

Geht man vom Präsentismus aus, dann kann die Antwort auf die ursprüngliche Frage nur negativ sein: Ich reise vom Jahr 2010 aus einhundert Jahre in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Da es genau eine Gegenwart gibt, muss ich mir die Frage stellen, was mit all denjenigen Gegenständen geschehen würde, die im Jahr 2010 existieren? Meine Reise ins Jahr 1910 würde nämlich bedeuten, dass das zuvor nicht mehr existierende Universum des Jahres 1910 erneut entstehen würde. Wie soll man sich das vorstellen? Gleichzeitig würde mit meiner Reise das Universum des Jahres 2010 aufhören zu existieren. Es scheint mehr als fragwürdig zu sein, ob ich die Ursache für Entstehen und Vergehen des gesamten Universums sein könnte, und zwar unabhängig davon, über welche technischen Hilfsmittel ich verfüge. Wenn beide möglichen Konsequenzen einer Annahme falsch sind, muss die Annahme selbst falsch sein: Denn weder ist es bei meiner hypothetischen Zeitreise möglich, dass das Universum des Jahres 2010 bestehen bleibt, noch ist es möglich, dass das Universum des Jahres 2010 nicht bestehen bleibt. Das Universum kann nicht bestehen bleiben, das dies ein Widerspruch zum Präsentismus wäre. Das Universum kann nicht aufhören zu existieren, da dies intuitiv höchst unplausibel wäre. Eine Zeitreise ist nicht möglich.

Die Situation wird noch verworrener, wenn man es nicht mit einem, sondern mit zwei Zeitreisenden zu tun hat und beide das Jahr 2010 in eine andere Richtung verlassen oder in dieselbe zeitliche Richtung aber mit einem anderen Ziel. Entsteht das Universum desjenigen, der in das Jahr 1910 reist oder etwa das Universum desjenigen, der in das Jahr 2110 reist. Wessen Universum hat den Vorzug? Solche und ähnliche Fragen können nicht beantwortet werden und sollen hier lediglich die Schwierigkeiten aufzeigen, in die ein präsentistischer Zeitreisender kommt.

Die naheliegende Frage ist, ob das Nowhere Reloaded vielleicht ein Argument gegen den Präsentismus ist? Ich glaube nicht, denn um dazu zu werden, müsste die Möglichkeit von Zeitreisen sichergestellt sein. Eine Zeitreise würde zweifelsfrei beweisen, dass der Präsentismus falsch ist - und umgekehrt. Wenn es jedoch darum geht, Präsentismus und die Möglichkeit von Zeitreisen gegeneinander auszuspielen, kann das verstärkte Nowhere-Argument keine Entscheidung herbeiführen. Auf dieser Ebene steht man vor zwei Auffassungen, die in gleichem Maße zu begründen wären. Das Nowhere Argument zeigt in seiner zweiten Form jedenfalls, was das die ursprüngliche Form zum Ziel hatte, doch nicht leisten konnte. Zeitreisen sind mit einer präsentistischen Auffassung nicht vereinbar. Da es darüber hinaus gute Gründe für den Präsentismus gibt, zeigt das Argument die Unmöglichkeit von Zeitreisen.

 

Literatur

Dwyer, Larry 1978: "Time Travel and some Alleged Logical Asymmetries Between Past and Future". In: Canadian Journal of Philosophy. Band 8. Seite 15 bis 38.

Keller, Simon und Nelson, Michael 2001: "Presentists Should Believe in Time-Travel" In: Australian Journal of Philosophy. Band 79. Seite 333 bis 345.

Shoemaker, Sidney 1969: "Time Without Change". In: Journal of Philosophy. Band 66. Seite 363 bis 381.

 

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„MEHRDEUTIG, adj. mehr als éine deutung zulassend: ein mehrdeutiger ausspruch. vergl. eindeutig. “ 

 

– Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 12, Sp. 1889 bis 1894.

 

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